Fluch und Segen von DITA

Eigentlich sollte der Beitrag »Fluch und Segen von Standards« heißen, aber das allgegenwärtige Buzzword DITA wollte ich doch im Titel haben. Es steht hier stellvertretend auch für DocBook und möglicherweise andere Dokumentations-relevante XML-Strukturvorschriften.

XML über Alles

Segen

Im übertragenen Sinn ist XML nur eine generelle Rechtschreibvorschrift für den Aufbau von XML-Dokumenten. Eine DTD oder ein XML-Schema ist ein Wortschatz und eine Grammatik, mit der Sie den erlaubten Satzbau und Wortarten festlegen können. Im Gegensatz zu HTML-Dokumenten, FrameMaker-Dokumenten, Word-Dokumenten sind das reichlich abstrakte Konzepte, und ich werde den Verdacht nicht los, dass sich hier immer noch manch Entscheider mit dem Verständnis schwer tut.

Da ist es natürlich wunderbar – und hier komme ich zum Segen –, wenn es neben den ach so allgemeinen XML-Dokumenten nun auch DITA-Dokumente oder Docbook-Dokumente gibt, die nicht nur XML sind sondern auch noch kompatibel zu weltweiten, offenen Standards.

Kompatibilität und Standard werden zu primären Entscheidungsgründen, XML und die damit verbundenen generellen Möglichkeiten treten in den Hintergrund. Zu diesen Möglichkeiten zählen eine bessere Anpassung der Dokumentstrukturen an die Produktstruktur, effizientere Übersetzungs- und Publikationsprozesse, leichtere Einarbeitung weiterer Mitarbeiter ins Team. Aber diese Ziele treten gegenüber der Kompatibilität mit Standards zurück. »Standard, Standard über alles«, schallt es uns entgegen.

Exkurs: Natürlich kann man als abhängiger Mitarbeiter nichts falsch machen, wenn man einen Standard empfiehlt. Ganz nach dem Motto: »Es ist noch keiner gefeuert worden, weil er IBM gekauft hat.«

Fluch

Wenn ein Standard nicht wegen ganz konkreter Prozesse eingeführt wurde (wie für bestimmte XML-Prozesse zum Beispiel in der Luftfahrt), sondern um eine (durchaus sinnvolle) Lösung möglichst breit aufzustellen, lässt es sich nicht vermeiden, dass die Strukturvorschrift eine gewisses Maß an Beliebigkeit enthält und zahlreiche Elemente vorsieht. Denn eine große Verbreitung kann man schließlich nur erreichen, wenn die Anforderungen möglichst vieler potentieller Anwender berücksichtigt sind, oder?

Meine Erfahrung aus vielen Jahren Prozessoptimierung (Templates, Skripte, Abläufe) haben mich gelehrt: Die Anforderungen an die Dokumentation sind in jeder Firma unterschiedlich und richten sich im Wesentlichen nach der Produktstruktur. Sollte es einmal Übereinstimmung geben, wäre das zufällig. Genauso zufällig wäre es, wenn ein Standard genau auf die Anforderungen Ihrer Firma passte.

Und die Erfahrung mit XML-Projekten (darunter auch DocBook) zeigt mir: Die Aufwände für Arbeiten rund um eine Struktur sind proportional der Anzahl der Elemente und Attribute. Je mehr Elemente erlaubt oder vorgesehen sind, desto mehr Arbeit entsteht bei der Formatierung für jedes Medium und auch bei eventuellen Anpassungen der Struktur. Zudem bedeutet eine Vielzahl von Elementen auch einen erhöhten Schulungsbedarf, damit sich alle Autoren an eine festgelegte Interpretation der Elemente halten (ganz abgesehen davon, dass dies auch dokumentiert werden sollte).

Persönliches Fazit

Was leite ich daraus ab:

  1. Schauen Sie sich Standard-Strukturen genau an, es könnte ja (zufällig) sein, dass Ihre Bedürfnisse zu 100% abgedeckt werden, oder dass die Abweichungen toleriert werden können.
  2. Es gibt in der EDV keine »nahezu 100%«, für den Computer gibt es nur identisch oder nicht identisch, Eins oder Null, nichts dazwischen. Das heißt, schon mit der kleinsten Abweichung vom Standard (gerne »Spezialisierung« genannt) haben Sie die Zusatzaufgabe, diese Abweichung zu implementieren und in allen Prozessen zu berücksichtigen; und bei Aktualisierungen des Standards wiederholt sich der Aufwand.
  3. Ziehen Sie eine an Standards orientierte, aber grundsätzlich individuelle Strukturvorschrift in Betracht. Hier bekommen Sie mit der minimalen Anzahl von Elementen und Attributen eine Lösung mit allen Vorteilen von XML und den denkbar geringsten Folgeaufwänden.

Tipp für DITA-Interessierte

Scriptorium Publishing hat aktuell ein Dokument »FrameMaker 8 and DITA Technical Reference« veröffentlicht, in dem detailliert geschildert wird, wie man mit FrameMaker 8 und der mitgelieferten DITA-Applikation arbeitet. Das 55-seitige Dokument ist für nur $10 in deren Onlineshop erhältlich, das Inhaltsverzeichnis können Sie vorab einsehen.

Siehe auch »DITA und kein Ende«.

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Eine Antwort zu Fluch und Segen von DITA

  1. Thomas Böttiger sagt:

    Das Hauptproblem sitzt zwischen den Ohren. Die Verlockung ist groß, die nicht gemachten Hausaufgaben im Hinblick auf Prozesse, Archivierung, Modularität und Struktur einer technokratischen Lösung anzuvertrauen. Strukturen, die nicht vorhanden sind, kann man auch mit ausgefeilten DocBooks und Schemata nicht erreichen.

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